Die Open Mike-Finalist:innen
im Interview
Um die Open Mike-Finalist:innen besser kennenzulernen, haben wir Interviews mit ihnen geführt. Erfahrt hier, was es mit den ersten Sätzen der Finaltexte auf sich hat, wie die jungen Autor:innen zu ihren Texten kamen – oder die Texte zu den Autor:innen – und welchen Routinen die Finalist:innen nachgehen. Viel Spaß!
Anastasia Averkova
Wie lautet dein erster Satz oder Vers, und war es auch der erste, den du geschrieben hast?
„der tod brütet sich sechs spätzlein", aber zuerst geschrieben habe ich einen Vers, der jetzt wieder gestrichen ist.
Wann und unter welchen Umständen ist dein Text entstanden?
An einem Dienstag, vierte Doppelstunde, auf einem Lesesofa der Unibibliothek - jedenfalls das erste kleine Stück des Textes. Und dann die letzten Tage kurz vor Ende einer Leihfrist.
Hast du eine Schreibroutine?
Ich bin nicht besonders routiniert.
Hannah Beckmann
Wie lautet dein erster Satz oder Vers, und war es auch der erste, den du geschrieben hast?
Erster Satz (bzw. erste Sinneinheit):
„Als Marlon 14 war, hatte er seine erste Freundin. Es war aufregend. Er hat sie überall mit hingenommen. Am liebsten als seinen Handyhintergrund. Am zweitliebsten zum Vortrinken."
Und war es auch der erste, den du geschrieben hast: Ja.
Wann und unter welchen Umständen ist dein Text entstanden?
Der Text ist in der Deutschen Bahn entstanden. Ich war auf dem Weg nach Leipzig, um den Geburtstag einer guten Freundin zu feiern. Als wir in den Bahnhof einfuhren, hatten sich Marlon und Silay gerade gestritten. Ich wechselte das Verkehrsmittel und Marlon textete eine Nachricht an Jannik. Jannik, textete er, findest du auch ich bin ein Arsch?
Als ich zwei Stunden später als erhofft bei meiner Freundin klingelte, war Marlon noch immer auf der Suche nach einer Antwort.
Hast du eine Schreibroutine?
Meine Schreibroutine hat sich durch meinen Job im Krankenhaus sehr verändert. Früher hieß sie: Immer dann, wenn ich emotionale Kapazität hatte. Heute heißt sie: Immer dann, wenn ich nicht arbeite oder aufräume oder auf Energie warte.
Lilli Biller
Wie lautet dein erster Satz oder Vers, und war es auch der erste, den du geschrieben hast?
Der erste Satz von meinem open mike-Text „geschwüre” ist: „sie halfen mir das kleid anzuziehen.” Der erste Satz, den ich überhaupt für diesen Text geschrieben habe, ist: „mein körper wurde wieder ein gekannter körper.” Diesen Satz habe ich am Ende aber rausgekürzt, damit mein Text genau 15 Minuten lang ist.
Wann und unter welchen Umständen ist dein Text entstanden?
Wann? 6. bis 8. Juni
Umstände? Heimlich in Berlin, d.h. keiner*m meiner Freund*innen sagen, dass ich da bin, damit ich mich mit niemandem treffen kann und weiterschreibe.
Hast du eine Schreibroutine?
Wenn „jeden Tag ein paar Satzfetzen in die Notizapp oder ins Notizbuch schreiben und beim Fahrradfahren über Ideen nachdenken, bis sich alles so angestaut hat, dass ich ein paar Tage nur schreibe” als Schreibroutine gilt, dann ja. Sonst nein.
Julia Blöcher
Wie lautet dein erster Satz oder Vers, und war es auch der erste, den du geschrieben hast?
„hielt das helmperlhuhn zum himmel“ war tatsächlich von Anfang an der erste Vers.
Wann und unter welchen Umständen ist dein Text entstanden?
Dieses Jahr, Frühjahr, meistens morgens: langsames Brüten.
Hast Du eine Schreibroutine?
Ich habe eine Sanduhr. Der Sand braucht eine halbe Stunde zum Durchrieseln. Wenn es geht, schreibe ich morgens mindestens diese halbe Stunde lang.
Minda Deol
Wie lautet dein erster Satz und war es auch der erste, den du geschrieben hast?
„Heute Morgen lag mein Gesicht im Waschbecken."
Dieser Satz war nicht der erste, den ich geschrieben habe, aber als er auftauchte, wusste ich – er ist wichtig.
Wann und unter welchen Umständen ist dein Text entstanden?
So wie das Gesicht im Waschbecken auftauchte, die Ich-Erzählerin anstarrte und letztlich im Abfluss wieder verschwand, so entstand der Text schubweise, bewegte sich zirkulär und nahm Gestalt an. Für den Wettbewerb erhielt er dann seine finale Form. Allerdings beschäftigte ich mich bereits während meines Bachelor-Studiums am Schweizerischen Literaturinstitut mit den Erzählkosmen, die sich im Text entfalten und gewissermassen demaskieren.
Hast du eine Schreibroutine?
Meine Schreibroutine:
Angst-Management.
In den Körper kommen.
In einen Zustand gelangen, in welchem ich voller Neugierde, Offenheit und Liebe den Figuren, Erzählkontexten und den Sätzen begegne.
Träumen und Fantasie als künstlerische Praxis im Alltag.
Lesen und Recherchieren.
Sich erlauben zu „scheitern".
Wenn sich dann ein Initialsatz aufdrängt: unbedingt nachgehen!
Beim Punkt „Überarbeiten" bin ich meinen Ansprüchen entsprechend noch nicht angekommen und erhoffe mir ab Herbst im Masterstudium am DLL entsprechende Einsichten.
Amelie Hermann
Wie lautet dein erster Satz oder Vers, und war es auch der erste, den du geschrieben hast?
Der erste Satz im Text ist: „Unsere Mütter sind tot.“ Es war auch der erste, den ich geschrieben habe. Alles, was danach kam, musste sich diesem Satz unterordnen.
Wann und unter welchen Umständen ist dein Text entstanden?
Im April. Die Umstände waren alltäglich.
Hast du eine Schreibroutine?
Eine Routine habe ich nicht. Es ist immer ein Chaos aus Word-Dokumenten, Zetteln und Handynotizen, die irgendwann zu einem Text zusammenfinden.
Dominik Kohl
Wie lautet dein erster Satz oder Vers, und war es auch der erste, den du geschrieben hast?
„Was ich außerdem wollte.“ + Nein, es hat etwas gedauert, bis er seine Stelle gefunden hatte.
Wann und unter welchen Umständen ist dein Text entstanden?
Der Text ist ausgehend von ein paar Skizzen über einen längeren Zeitraum entstanden. Die Grundideen waren aber von Anfang an da. Ich hatte da gerade verschiedene Umzüge hinter mir, einiges an Regionalgeschichte gelesen und so ein bisschen Sehnsucht nach einem Zimmer, das es nicht gibt, und dass der Sommer nicht aufhört.
Hast du eine Schreibroutine?
So gut es geht!
Tabea Kroll
Wie lautet dein erster Satz oder Vers, und war es auch der erste, den du geschrieben hast?
„Mein Tag beginnt regelmäßig da, wo für die meisten alles schon geendet hat: In unserem Hochhauskomplex.“ Nein – und ich glaube, den ursprünglich ersten Satz meines Romans habe ich schon längst rausgeschmissen. Tatsächlich schreibe ich selten chronologisch. (Ich wünschte, ich könnte das! Würde mir beim Schreiben bestimmt viel Chaos ersparen.) Ist aber eigentlich auch egal, solange am Ende die Story stimmt.
Wann und unter welchen Umständen ist dein Text entstanden?
Der Text in seiner eingereichten Form ist vor über einem Jahr entstanden. Ich habe damals intensiv an meinem Roman gearbeitet und für den Open Mike einige ausgewählte Stellen zu einem eigenen Mini-Narrativ verdichtet. Es handelt sich also nicht um einen 1:1 Ausschnitt, aber jede Szene findet sich so auch im Roman wieder.
Hast du eine Schreibroutine?
Leider sind Routinen so gar nicht mein Ding. Ich mag die Idee von Routinen sehr, schaffe es aber selten, die auch wirklich einzuhalten. Ich schreibe, wann immer es in meinen Alltag passt – ein Kapitel nach Feierabend, eine Szene auf dem Weg irgendwohin, eine Notiz im Wartezimmer. Manchmal schreibe ich wochenlang gar nichts, manchmal jeden Tag.
Emma Martschinke
Wie lautet dein erster Satz oder Vers, und war es auch der erste, den du geschrieben hast?
Die erste Zeile meines Textes lautet: „Ich hab was geerbt. Ein Haus, ein ganzes."
Diese beiden Sätze bilden nicht nur den Anfang meiner Geschichte, sie waren auch der Beginn meines Schreibens. Von Anfang an wusste ich, dass ich zwei Dinge miteinander verweben wollte, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben: nämlich Gittes Spargelhütte vor dem Baumarkt und den Tod eines geliebten Menschen. Womit ich beim Konzipieren nicht gerechnet hatte, war das Haus, das meine Geschichte eröffnet und schließt. Trotzdem steht es da, gleich im ersten Satz. So ist das manchmal: Etwas schleicht sich in den Text, ohne dass man ahnt, wozu man es brauchen wird und warum es wichtig ist.
Wann und unter welchen Umständen ist dein Text entstanden?
Als ich die ersten Zeilen schrieb, hatten mein Mann und ich gerade – passend zur ersten Zeile – ein altes Haus gekauft. Kurz zuvor hatte ich beim Fränkischen Preis für junge Literatur mitgemacht und am Finalabend zum ersten Mal vom Open Mike erfahren. Da ich große Angst vor Bühnen habe und das Haus mich täglich mit neuen Aufgaben überhäufte, schrieb ich den Text also eher im Konjunktiv: Wäre doch schön, wenn ich Zeit fände, einen Text zu schreiben. Wäre doch verrückt, wenn ich mich trauen würde, ihn dann auch tatsächlich einzureichen. Den Button zum Einreichen drückte ich schließlich mit geschlossenen Augen – zwischen Holzlatten, Acrylpistole und absurd hohen Baumarktrechnungen.
Hast du eine Schreibroutine?
Immer, wenn mich etwas berührt, inspiriert, oder interessiert, dann schreibe ich darüber. Oder, wenn ich über etwas nachdenken muss. Am liebsten widme ich mich Dingen, die auf den ersten Blick nicht zusammenpassen wollen. Aus ihren Unterschieden lässt sich etwas machen: eine Brücke, ein Spannungsfeld, manchmal auch ein Abgrund. Am produktivsten bin ich vormittags an meinem Schreibtisch – auf einem Walkingpad, unspektakulär, aber wirksam. Die besseren Texte entstehen jedoch meist abends, zusammengerollt im Sessel, während im Ofen ein Feuer knistert. Wenn mich ein Text nicht mehr loslässt, schreibe ich täglich an ihm. Und dann gibt es Phasen, in denen ich wochenlang gar nichts schreibe – bis wieder etwas kommt, das unbedingt geschrieben werden muss.
Cornelius Müller
Wie lautet dein erster Satz oder Vers, und war es auch der erste, den du geschrieben hast?
„Paolo drückt auf Aktualisieren." Das war nicht der erste geschriebene Satz, aber eines der frühen Updates.
Wann und unter welchen Umständen ist dein Text entstanden?
Nach mehrmonatigem Ideensammeln als erste Erzählung über fünf Figuren, die mich noch länger begleiten werden. Und, seit Anfang dieses Jahres: Immer mittwochs in der „Weichenwärterei“ des WORTSTELLWERK <3.
Hast du eine Schreibroutine?
Ja: Zwei Wochen Schreibeuphorie; zehn Tage Pause; zwei Tage wandern (einen Tag Kopf frei kriegen, einen Tag Ideen in der Notiz-App sammeln – Vorsicht, Stolpergefahr!); einen Abend schreiben; einen Abend schreiben vornehmen und mit zu viel Pasta im Bauch bei Preisvergleichen von Bluetooth-Kopfhörern hängenbleiben; ein Abend schreiben vornehmen und schreiben. Und, seit diesem Jahr: Immer mittwochs ins WORTSTELLWERK <3.
Lea Marie Rauser
Wie lautet dein erster Satz oder Vers, und war es auch der erste, den du geschrieben hast?
Der erste Satz meiner Erzählung lautet: „Sie selbst sprechen zu lassen bedeutet keineswegs, sie auch wirklich zu Wort kommen zu lassen.“
Der Satz ist nicht von mir, sondern von Hito Steyerl, Filmemacherin und Autorin, aus ihrem Vorwort zu Spivaks Aufsatz: „Can the Subaltern Speak?"
Tatsächlich war das der erste Satz, den ich mir für meine Geschichte aufgeschrieben hatte, weil ich viel darüber nachgedacht habe, wie Fiktion funktionieren kann, die von Lebensrealitäten erzählt, die nicht die eigenen sind.
Wann und unter welchen Umständen ist dein Text entstanden?
Ich habe mich 2023 als Ehrenamtliche ausbilden lassen, um Familien unterstützen zu können, die von Haft betroffen sind. Als ich das erste Mal von dem Projekt gehört habe, ist mir erst aufgefallen, dass ich darüber zuvor noch nie nachgedacht hatte: wer eigentlich von Haft mitbetroffen ist. Das fand ich spannend und daraus entstand der erste Gedanke, dass ich mir irgendwann gerne eine Geschichte ausdenken würde, die zum Nachdenken darüber einlädt. Anfang dieses Jahres habe ich das dann umgesetzt und versucht, die Belastungen, mit denen viele dieser Familien zu kämpfen haben, in einer Erzählung greifbarer zu machen. Aber auch darüber zu schreiben, wie schwer es ist, als Außenstehende davon zu erzählen.
Hast du eine Schreibroutine?
Ich versuche, an den meisten Tagen in der Woche eine Stunde lang zu schreiben. Entweder morgens, bevor der Tag beginnt, oder abends danach. Wichtiger als die Routine ist es aber, glaube ich, sich selbst an den Tagen zu verzeihen, an denen das nicht klappt. Es schreibt sich nicht gut, wenn man zu streng mit sich ist.
Nea Schmidt
Wie lautet dein erster Satz oder Vers, und war es auch der erste, den du geschrieben hast?
„Es ist schön und eine Immobilie.“
(Ich schreibe eigentlich selten linear, dieses Gedicht hat sich beim Prokrastinieren entwickelt - ich hätte eigentlich eine Website basteln sollen und habe stattdessen Lorem Ipsum Sätze aus diesem Fake-Latein übersetzt. Ich fand den Aspekt von Sprache als graphisches Element und als Platzhalter interessant. Gerade da, wo die semantische Ebene vernachlässigt wird, steckt viel tragikomisches Potenzial. Vom Kauderwelsch ausgehend, habe ich angefangen zu schreiben, also Bilder gesammelt, montiert und umschrieben, angereichert, verstellt,
verzerrt und verwoben, bis sich in oder zwischen dem, was zunächst zusammenhangslos wirkt, Zusammenhänge finden lassen. So ist der erste Text entstanden.)
Wann und unter welchen Umständen ist dein Text entstanden?
Zu verschiedenen Zeitpunkten, unter verschiedenen Umständen (Lyrik!): zwei an einem Tag, eins nach einem Traum, eins in Tel Aviv, vier in Wien. (Die oft eher tragische Tatsache, nur eine einzige Person zu sein, hat immerhin zur Folge, dass es trotzdem als Zyklus funktioniert.)
Hast du eine Schreibroutine?
Meine einzige Schreibroutine ist, dass ich mir seit Jahren fast jeden Traum aufschreibe, ansonsten kann ich kaum Routinen halten. Äußere Strukturen wie das Institut für Sprachkunst und regelmäßige Treffen im Lyrikkollektiv (fährten) helfen mir, im Schreiben zu bleiben und nicht allein mit meinen Zweifeln zu sein. Oder ich versuche, mich selbst zu überlisten, indem ich an drei Sachen gleichzeitig schreibe, um mit einem vom anderen prokrastinieren zu können.